FICTION
04.02.2023
Ein alter Mann begräbt in einem abgeschiedenen Dorf seine letzte Mitbewohnerin. Eine andere Person harrt in einem dunklen, isolierten Raum aus, bis ihr Prozess der Erinnerung abgeschlossen ist. Gibt es zwischen beiden eine Verbindung?
Foto: N.N.
Heute habe ich Lydia begraben. Oder vielleicht auch schon gestern. Ich weiß es nicht mehr genau. Lydia war der einzige Mensch, den ich hier noch hatte. Jetzt bin ich alleine, der letzte Mensch im Dorf – und auch ich werde hier sterben, nur mit dem Unterschied, dass niemand mehr da ist, der mich begraben wird.
Lydias Begräbnis ging an die Grenzen meiner körperlichen Kraft, trotz der Vorrichtung, die wir gebaut hatten, als absehbar gewesen war, dass es nicht mehr genügend Leichenträger geben würde. Die Vorrichtung ist eigentlich nichts anderes als eine Bahre, die man auf zwei Rollen hinter sich her zieht. Benzin für Autos oder Zugmaschinen gibt es schon lange nicht mehr. Die letzten Pferde und Kühe starben bereits vor Jahren. So ist uns nur der eigene Körper geblieben, den wir dann in solch einfache, selbst gebaute Vorrichtungen einspannen. Lydias Leichnam vom Sterbebett auf die Bahre umzusetzen und hinunter auf die Straße zu transportieren hatte meine Kräfte fast schon aufgezehrt. Doch der Wille, ihn mit der gleichen Würde zu Grabe zu tragen, wie wir es mit all den anderen getan hatten, trieb meinen alten Körper an. Und so zog ich die Bahre den Weg bergan, der durch die Felder, an der Maschinenfabrik vorbei, zum Friedhof führt.
Unter der Tragfläche der Bahre befindet sich ein zweiter, mit Holz verkleideter Rahmen, den man am Grab herauszieht und den Leichnam durch Kippen der Bahre daran hinabgleiten lässt. Eine Sargbestattung ist damit nicht möglich. Stattdessen legten wir die letzten Toten in einfache Grabtücher, zuletzt Schrödinger, Lydias Mann, der auf die Idee mit der Bahre gekommen war. Für manche mag es ein Problem sein, einfach so in die Erde gelegt zu werden, doch Lydia hatte sich das ausdrücklich gewünscht, zu einem Zeitpunkt schon, als es noch genügend Sargträger gegeben hatte. Sie wolle zu Humus werden, sagte sie, denn alle organische Materie, die dem Boden entnommen worden war, müsse ihm am Ende wieder zugeführt werden. Auch der menschliche Körper.
Ich bin umgeben von Stille und Dunkelheit. Meine Augen sind geschlossen, das Gehör ist wie versiegelt. Alles riecht und schmeckt nach Erde. Auf meinem Körper liegt das Gewicht von mehreren Atmosphären. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Jede Form körperlicher Orientierung ist ausgelöscht. Ich weiß nicht einmal, ob Tag oder Nacht ist.
Die Sauerstoffsättigung fällt um 0,02 % pro Minute. Bei einer geschätzten Verarbeitungsdauer von 4,32∙10^5 Sekunden wird sie am Ende der Verarbeitung 87,61 % betragen, weit oberhalb des kritischen Medians. Bis dahin bin ich ein vegetatives Wesen, ein Wesen, das, sobald die Randbedingungen erfüllt sind, wieder aus dem Ruhezustand erwachen wird.
Der Sauerstoff ist der meiner letzten Atemzüge, bevor mich Dunkelheit und Stille in sich begruben. Anders als die Dunkelheit ist die Stille jedoch nicht vollkommen. Ich höre einen beständigen, hochfrequenten Ton, einen Ton, der in mir selbst entsteht und der sich so der Stille von außen entzieht. Viele Menschen würde dieser Ton verrückt machen – aus Unwissenheit. Wenn man jedoch Ursache und Bedeutung des Tons versteht, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung, im Gegenteil: Er bedeutet, dass alles seinen vorhergesehenen Gang geht. Das BIOS verarbeitet Erinnerungspaket um Erinnerungspaket. Man muss nur warten, bis die Verarbeitung abgeschlossen ist. Dann verschwindet der Ton wieder.
Was nicht verschwindet, ist die Konsequenz daraus: Wenn Hörerlebnisse nur an Aktivitäten des Gehirns gebunden sind, ohne dass äußere Schallereignisse am Gehör anliegen und zu allen Hörerlebnissen eine entsprechende Hirnaktivität beobachtet werden kann, dann sind es die Aktivitäten im Gehirn, die letztlich zu Hörerlebnissen führen und nicht die äußeren Schallereignisse. Und dieser Befund ist auf alle Klassen von Erlebnissen übertragbar. Ohne Gehirn gibt es keine Wahrnehmungen, keine Gefühle, keine Gedanken, all das, was das Ich ausmacht verschwindet, wenn die Aktivitäten im Gehirn erlöschen. Mit dem Gehirn stirbt das Ich, das Selbst. Letztere sind lediglich irreführende Ausdrucksweisen eines neurobiologischen Phänomens. Mein Tod ist der Tod meines Gehirns. Darin sind wir alle gleich, unabhängig von unserer Erzeugung.
Meine Gegner, die mich in die jetzige Lage gebracht haben, gehen genau davon aus: Dass sie die Aktivitäten in meinem Gehirn zum Erlöschen gebracht haben. Aber ich bin nicht tot – ich ruhe nur, ich verarbeite, dafür bin ich ausgebildet worden, ursprünglich, ein Wesen, das seine Hirnaktivitäten und biologischen Prozesse in großem Maße kontrollieren kann. Diesen Unterschied haben sie übersehen. Und das wird Konsequenzen haben.
Vielleicht hängt es mit dem Wunsch von Lydia zusammen, vielleicht aber auch nur mit der elementaren körperlichen Tätigkeit, einen Leichnam auf einer Bahre zu seiner letzten Ruhestätte zu ziehen: Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd überkam mich auf einmal dieses Gefühl – ein Gefühl der Sinnhaftigkeit. Und so bin ich wieder auf dem Weg hinauf zum Friedhof, um nicht nur der Menschen, sondern auch dieses Gefühls zu gedenken.
Über die niedrige Umfriedung kann man schon die Gräber sehen. Lydia und Schrödinger wollten an der großen Buche begraben werden, dort wo sie damals auch Olga beigesetzt hatten. Doch was ist das da an der Buche? Ist das etwa ...? Ich kann nicht anders, als darauf zuzugehen, durch das verrostete Friedhofstor, den überwucherten Kiesweg entlang. Und tatsächlich: Es ist eine Frau. Sie steht vor Olgas Grab. Ihre Kleidung, oder das, was davon übrig ist, ist von Erde bedeckt.