ESSAY

Von Tieren und Tugenden

26.03.2023

In der Tierethik spielt das Konzept des moralischen Status eine wichtige Rolle. In konkreten Situationen hilft das Konzept aber oftmals nicht weiter. Die Philosophin Rosalind Hursthouse schlägt deshalb eine Alternative vor: Tugenden.

Igel in menschlicher Hand

Foto: Sierra NiCole Narvaeth / Unsplash

Emil, die Coladose und der Igel

Emil hat miese Laune. Der blöde Deutschlehrer hat ihm eine schlechte Note verpasst. Das ist total ungerecht, denn schuld ist der Lehrer. Der hat das einfach nicht richtig erklärt. Auf dem Bürgersteig liegt eine leere Coladose. Die kommt Emil jetzt gerade recht. Der ganze Frust sammelt sich in seinem Schussbein und er kickt die Coladose in hohem Bogen über den Bürgersteig.

Ein Woche später hat es der blöde Deutschlehrer schon wieder getan. Diesmal kreuzt auf dem Bürgersteig keine Coladose Emils Weg, sondern ein Igel. Mit der gleichen frustgeladenen Energie wie letzte Woche kickt er nun den Igel in hohem Bogen über den Bürgersteig. Eine Passantin sieht den Vorfall und ist entsetzt – und die meisten Menschen wären es vermutlich genauso: Einen Igel darf man nicht wie eine Coladose treten. Aber warum eigentlich nicht? Warum macht es einen Unterschied, ob man eine Coladose kickt oder einen Igel, ein Telefon aus dem Fenster wirft oder einen Hundewelpen, mit dem Baseballschläger auf einen Stein einschlägt oder auf einen Deutschlehrer?

Eine Antwort aus der Ethik lautet: Weil Igel, Hundewelpen und Deutschlehrer einen moralischen Status haben, Coladosen, Telefone und Steine jedoch nicht.

Moralischer Status

Hat ein Objekt einen moralischen Status, dann kann man diesem Objekt gegenüber moralisch richtig oder moralisch falsch handeln. Der Coladose gegenüber ist es moralisch egal, ob ich sie im hohen Bogen über den Bürgersteig kicke oder nicht. Hingegen ist es moralisch falsch, zumindest aus Sicht von Tierethikern, einen Igel wie eine Coladose zu behandeln. In seiner Stellungnahme Tierwohlachtung definiert der Deutsche Ethikrat den moralischen Status wie folgt:

„In seiner allgemeinen Bedeutung besagt der Begriff [des moralischen Status], dass ein Wesen, dem ein solcher Status zukommt, in die Sphäre des Schutzes moralischer Normen einbezogen, in seinen Belangen daher zu achten und diesem Gebot entsprechend zu behandeln, kurz: zumindest ein Objekt der Moral ist.“

Der moralische Status eines Objekt führt demnach dazu, dass es unter demSchutz moralischer Normen steht. Es darf nur in dieser Weise mit ihm umgegangen werden, wie es die moralischen Normen gebieten. Dem Konzept des moralischen Status folgt eine Frage sogleich auf dem Fuß: Wie kommt ein Objekt überhaupt zu einem solchen Status? Je nach Moraltheorie gibt es im Prinzip dafür zwei Wege: über Merkmale oder über Werte.


Auf dem ersten Weg der Merkmale gilt die Leidensfähigkeit als eines der prominentesten Merkmale. Kann ein Objekt unter einer Handlung leiden, dann kommt ihm ein moralischer Status zu. Höher entwickelte Tiere wie Vögel oder Säugetiere weisen das Merkmal der Leidensfähigkeit auf – was ihnen moralischen Status verleiht und sie somit unter den Schutz moralischer Normen stellt, also dem Gebot ihnen kein Leid zuzufügen.


Auf dem zweiten Weg der Werte unterscheidet man zwischen Eigenwert und instrumentellem Wert. Hat ein Objekt nur einen instrumentellen Wert, dann darf es als Mittel zum Zweck verwendet werden, wie ein Werkzeug. Es hat keinen moralischen Status. Anders sieht es hingegen aus, wenn ein Objekt über einen Eigenwert verfügt. Denn der Eigenwert bringt automatisch einen moralischen Status mit sich. Zu Objekten mit Eigenwert zählen Menschen. Ein Mensch darf nicht als Mittel zum Zweck verwendet werden, wie in der Sklaverei geschehen. Dehnt man den Eigenwert auf Tiere aus, wie in der Tierethik diskutiert, dann liegt der Wert beispielsweise eines Huhns nicht darin, lediglich ein Mittel zur Eierproduktion zu sein, sondern es hat einen Wert einfach weil es ein Huhn ist.

Tugend statt Status

Das Konzept des moralischen Status hat jedoch ein grundlegendes Problem, so die Philosophin und Tugendethikerin Rosalind Hursthouse: Es mag theoretisch wohlbegründet sein, erweist sich jedoch in konkreten praktischen Situationen als nutzlos – und zwar aus zwei Gründen:

  1. Die Menge an Objekten, denen moralischer Status zukommt oder nicht, ist viel zu heterogen, als dass man alle Objekte auf die gleiche Weise behandeln könnte.
  2. Der moralische Status regelt nur den direkten Umgang mit Objekten, die einen solchen Status haben oder nicht. In unserer komplexen Gesellschaft sind wir aber oftmals Teil unmoralischer Praktiken, ohne dass wir den moralischen Status von Objekten direkt verletzen.

Zum ersten Grund schreibt Hursthouse in ihrem Aufsatz Die Anwendung der Tugendethik auf unsere Behandlung der anderen Tiere:

„Jedoch ist diese Vorgehensweise [der Zuschreibung moralischen Status’] im Kontext der Ethik unserer Behandlung der anderen Tiere schlicht nutzlos. Es gibt nicht eine bekannte Menge von Tatsachen über die anderen Tiere, sondern eine ganze Anzahl von Mengen von (weitgehend unbekannten) Tatsachen über verschiedene Spezies, eine weitere Anzahl von Mengen über einzelne Tiere, und eine weitere Anzahl über Gruppen – Haustiere, Zootiere, die Tiere, die wir essen, die Tiere, an denen wir Versuche durchführen usw. Fragen über moralisch richtige und falsche Handlungen gegenüber Tieren stellen sich in vielen verschiedenen Kontexten, in viel zu vielen, als dass diese Fragen durch eine pauschale Statuszuschreibung geklärt werden könnten.“

Den zweiten Grund illustriert Hursthouse am Beispiel des Fleischessens. Bereits in den 1970er Jahren beschrieb der Philosoph Peter Singer in seinem Buch Animal Liberation das Leid von Tieren in der industriellen Tierhaltung. Bis heute hat sich daran nicht viel verändert, wie die regelmäßigen Berichte der Tierschutzorganisation PETA zeigen. Wenn Hühnern beispielsweise ein moralischer Status zukommt, dann wird dieser Status durch die Menschen verletzt, die Hühner auf industrielle Weise halten, mästen und schlachten. Am Ende der Produktionskette kann ich als Konsument Hühnerfleisch aus industrieller Tierhaltung kaufen, fein in Folie verschweißt, und essen. Logisch gesehen ist das moralisch unproblematisch, denn das Hühnerfleisch ist ein Objekt, dem, im Gegensatz zum lebenden Huhn, kein moralischer Status mehr zukommt. Im Prinzip könnte ich das abgepackte Hühnerfleisch durch den Supermarkt kicken wie eine Coladose.


Hursthouse weist jedoch darauf hin, dass man in dieser Logik eine entscheidende Sache vergisst: Als Konsument von Fleisch aus industrieller Tierhaltung bin ich Teil des Systems, auch wenn ich die Hühner selbst nicht halte:

„[Singer] zeigte seinen Lesern, dass wir durch den Verzehr von Fleisch eine große Menge an Tierleid verursachen, das erheblich reduziert werden könnte, wenn wir unsere Gewohnheiten änderten. Ich nehme also die Buchseiten, auf denen er das tut, und denke über sie nach, zum Beispiel in Bezug auf Mitgefühl, Mäßigung, Gefühllosigkeit, Grausamkeit, Gier, Selbstgefälligkeit und Ehrlichkeit. Kann ich in aller Ehrlichkeit die fortwährende Existenz dieses Leidens leugnen? Nein, das kann ich nicht. Ich weiß sehr wohl, dass es zwar einige Verbesserungen bei der Regulierung der Massentierhaltung gab, dennoch ist das, was dort geschieht, immer noch schrecklich. Kann ich mir vorstellen, dass es alles andere als gefühllos ist, mit den Schultern zu zucken und zu sagen, dass es keine Rolle spielt? Nein, das kann ich nicht. Kann ich leugnen, dass die Praktiken grausam sind? Nein, das kann ich nicht. Was mache ich dann, wenn ich an ihnen beteiligt bin? Es reicht nicht, wenn ich sage, dass ich selbst nicht an der Grausamkeit selbst beteiligt bin. Es gibt eine große Kluft zwischen nicht grausam zu sein und wirklich mitfühlend zu sein, und die Tugend des Mitgefühls ist das, was ich mir aneignen und ausüben soll. Ich kann mich nicht als mitfühlend bezeichnen, wenn ich an solcher Grausamkeit beteiligt bin.“

Um konkrete moralische Fragestellung in einer komplexen Gemengelage bewältigen zu können, schlägt Hursthouse also nichts weniger vor, als das Konzept des moralischen Status zurückzuweisen und an dessen Stelle die Ein- und Ausübung von Tugenden zu setzen. Als Beispiele für Tugenden nennt sie Mitgefühl, Ehrlichkeit und Mäßigung. Mitgefühl setzt jedoch voraus, dass ich in der verpackten Hühnerbrust das lebende Huhn erkenne. Dazu braucht es intellektuelle Tugenden, die diese Verbindung sichtbar machen. Kein Fleisch aus industrieller Haltung zu essen, ist folglich weniger eine Frage des moralischen Status als die orchestrierte Ausübung von Tugenden.


Quellen

Deutscher Ethikrat: Tierwohlachtung – Zum verantwortlichen Umgang mit Nutztieren – Stellungnahme. Berlin: 2020. PDF-Download unter folgendem Link
Hursthouse, Rosalind: Die Anwendung der Tugendethik auf unsere Behandlung der anderen Tiere. In: Wolf (Hg.): Texte zur Tierethik. Ditzingen: Reclam, 2019