ESSAY

Probier's mal mit Vortrefflichkeit

25.02.2023

Wer kennt nicht die berühmte Szene aus Disneys Dschungelbuch: Probier's mal mit Gemütlichkeit singt Balu der Bär, während er mit lässigen Tanzbewegungen Früchte von den Bäumen pflückt. Das Loblied sollte aber einer anderen gelten: der Vortrefflichkeit.

Junge Frau vor einer weißen Wand

Foto: lwlies.com

Gemütlichkeit – ein trügerisches Idyll

Gemütlichkeit ist ein Gemütszustand, den man subjektiv als angenehm empfindet, weil er sich so warm und behaglich anfühlt. Alles ist in Watte und Wärme gepackt. Man beginnt zu schnurren wie die Katze auf der warmen Motorhaube und möchte, dass dieser Zustand nie wieder aufhört. Und der Zustand tut auch alles, diesen Wunsch zu erfüllen: In wohliger Schwere lässt er dich eins mit der Couch werden. Zwischen den fluffigen Polstern bleibt für Sorgen kein Platz.

Von außen betrachtet gibt die Gemütlichkeit ein anderes Bild ab: In ihrer Wellnessattitüde steht sie dem Kitsch nahe. Wie der Kitsch gaukelt sie eine trügerische Idylle vor. Denn die Wattehülle ist porös. Mit einem Prankenhieb kann Tiger Shir Khan sie in Bausch und Bogen zerschlagen. Wäre es da nicht klüger, auf etwas anderes zu setzen? Vortrefflichkeit zum Beispiel.

Vortrefflichkeit – das Beste im Menschen

Vortrefflichkeit im philosophischen Sinne verlässt die Blase rein subjektiven Wohlempfindens. Es geht nicht um Gemütszustände wie den der Gemütlichkeit, sondern um Charakterzüge oder Merkmale, durch die sich die Spezies Mensch auszeichnet. Diese gilt es, auf vortreffliche Weise auszubilden und zu kultivieren, um so zu einem vortrefflichen Menschen zu werden.

Der amerikanische Philosoph Daniel M. Haybron sieht ganz unterschiedliche Felder, in denen Menschen nach Vortrefflichkeit streben können. In der Athletik wie der Freeclimber Alex Honnold, im Schachspiel wie Elizabeth Harmon oder in der Philosophie wie Ludwig Wittgenstein. So unterschiedlich die Felder und Menschen sein mögen, allen gemeinsam ist ihnen nach Haybron, dass es im Streben nach Vortrefflichkeit nicht um subjektives Wohlergehen geht, sondern um die Vortrefflichkeit selbst. Vortrefflichkeit und angenehme Gefühle können sogar in Konflikt geraten, sodass Wohlergehen gegenüber der Vortrefflichkeit hintanstehen muss. Eine fast 1000 Meter hohe Felswand, in der man ohne Sicherung hochklettert, den Abgrund stets unter sich, ist kein Wohlfühlort. Warum aber dann überhaupt nach Vortrefflichkeit streben, wenn dadurch das Wohlgefühl in Mitleidenschaft gezogen wird? Weil Vortrefflichkeit, so Haybron, einen Sinn im Leben erzeugt und dadurch eine wichtige Komponente für ein gutes Leben darstellt:

[...] Vortrefflichkeit steht oft im Widerspruch zum Wohlbefinden: Ein gequälter Künstler oder Philosoph wie Wittgenstein kann in seinem Leben viel bewundernswertes tun und dabei Höhepunkte menschlicher Vortrefflichkeit erreichen, ohne dass es ihm wirklich gut geht. Manche Leben sind durchaus bewundernswert, auch wenn sie nicht im Geringsten beneidenswert sind. Kurz gesagt: Vortrefflichkeit hat einen Eigenwert und trägt zur Güte unseres Lebens bei, ganz unabhängig von der Frage des Nutzens.

Haybrons pluralistisches Verständnis von Vortrefflichkeit läuft jedoch Gefahr, die ursprüngliche Idee aus den Augen zu verlieren: Charakterzüge oder Merkmale zu kultivieren, die uns als Spezies auszeichnen. Auch wenn dem Freeclimber Honnold Bewunderung allen Ortens entgegengebracht wird, lässt sich zumindest diskutieren, ob die athletische Komponente seiner bewundernswerten Leistung ein spezifisches Charakteristikum der Spezies Mensch darstellt. Um dieser Gefahr zu entgehen, hilft ein Blick zurück in die antike griechische Philosophie, wo die Idee der Vortrefflichkeit mit dem Begriff der Arete (altgriechisch: ἀρετή / aretḗ) ihren Ausgang nahm. Sokrates & Co. schickten damals etwas als spezifisches Charakteristikum der Spezies Mensch ins Rennen, das bis heute die Philosophie prägt: die Vernunft.

Vernunft – die schlummernde Schöne

Mittlerweile hat die Vernunft einiges an Strahlkraft verloren. Man betrachtet vernünftige Menschen als kopfgesteuerte Langeweiler. Und sei doch mal vernünftig ist der Schlachtruf all derjenigen, die ihre Emotionen unter der Knute kalter Rationalität halten. Doch nichts könnte abwegiger sein, als in der Vernunft eine engherzige Rechnerin zu sehen. Vielmehr ist das Verständnis von Vernunft zu einem Schatten seiner selbst geworden. Die französische Philosophin Corine Pelluchon beschreibt in ihrem Buch Das Zeitalter des Lebendigen, wie mit der Ökonomisierung der Welt die Vernunft zu einer rein instrumentellen Vorrichtung einer Kosten-Nutzen-Rechnung ausgehöhlt wurde. Dagegen zeigen Philosophinnen und Philosophen zu unterschiedlichen Zeiten, was für ein Schatz da in uns schlummert.

Aristoteles betrachtete vor mehr als 2000 Jahren die Vernunft als jenen Teil der menschlichen Seele, der uns von anderen Tieren unterscheidet. Die Vernunft teilt sich wiederum in zwei Teile auf, in theoretische und praktische Vernunft. Beiden Vernunftteilen wohnen Tugenden inne – Weisheit (sophia) in der theoretischen Vernunft und Klugheit (phronesis) in der praktischen Vernunft.

Im 18. Jahrhundert machte Immanuel Kant die Vernunft zum Sitz des Erkenntnisvermögens und des guten Willens – des Vermögens moralisch zu handeln. Die Vernunft ist nach Kant jenes Vermögen, das uns Prinzipien für unser Denken und Handeln an die Hand gibt. Dadurch geschieht etwas ganz außerordentliches: Jedes Wesen, das nach den Prinzipien der Vernunft handelt, wird zu einem freien, autonomen Wesen. Denn die Vernunft macht moralisch richtige Handlungen möglich, indem sie uns von Affekten und Begierden emanzipiert.

In der zeitgenössischen Philosophie sieht Christine M. Koorsgard die Vernunft (engl. rationality) als:

[...] etwas anderes als Intelligenz und die Fähigkeit, Probleme durch Überlegung zu lösen. Sie ist die Fähigkeit sich zu fragen, ob ein mögliches Handlungsmotiv auch wirklich ein guter Grund für den Vollzug dieser Handlung ist, um dann der Antwort auf diese Frage entsprechend zu handeln. Rationalität [Vernunft] ist, so betrachtet, normative Selbstbestimmung, das Vermögen, uns durch Nachdenken darüber leiten zu lassen, was wir tun oder glauben sollen.

Korsgaard argumentiert, dass nichtmenschliche Tiere intelligente Wesen sind, sich aber nicht über die Gründe und Motive ihres Handelns befragen können. Weil wir Menschen dies aufgrund unserer Vernunftbegabtheit (potenziell) können, bedeutet das nach Korsgaard jedoch nicht, dass wir Menschen deshalb wichtiger oder wertvoller sind als andere Tiere. Im Gegenteil: Vernunft stellt zwar ein spezifisches Merkmal der Spezies Mensch dar, erhebt uns aber gerade nicht über andere Lebewesen. Es gibt keine Human Supremacy. Aber viele gute Gründe, um die Vernunft in ihrer ganzen Vortrefflichkeit wiederzuentdecken.


Quellen

Pelluchon, Corine: Das Zeitalter des Lebendingen – Eine neue Philosophie der Aufklärung. Darmstadt: wbg, 2021
Haybron, Daniel M.: The Lives We Want (Manuskript). https://www.danhaybron.com/research
Korsgaard, Christine M.: Tiere wie wir – Warum wie moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. München: C.H. Beck, 2021