ESSAY

Die Poesie des Körpers

11.03.2023

Es gibt tote Objekte wie Steine und Maschinen. Und es gibt lebende Wesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen. Obwohl sie beide der körperlichen Welt angehören, unterscheiden sie sich wesentlich voneinander.

Junge Frau vor einer weißen Wand

Foto: Yogendhra Sing / Pexels

Schnittstelle

Im menschlichen Körper kommen Raum und Zeit zusammen. Der Raum, weil mein Körper ausgedehnt ist und ich durch ihn einen Standpunkt im Raum einnehmen. Die Zeit, weil mein Körper endlich, d. h. sterblich ist. Der menschliche Körper als Schnittstelle von Raum und Zeit lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen beschreiben:

  1. Am Anfang sind Zeit und Raum. Sie sind die primären Grundbedingungen meines Daseins. In deren Schnittstelle entsteht mein Körper.
  2. Am Anfang ist mein Körper. Er ist die primäre Grundbedingung meines Daseins. Zeit und Raum entstehen durch meine körperliche Existenz.

Egal auf welche Weise man die Verbindung zwischen Zeit, Raum und Körper beschreibt, es ergibt sich die gleiche Konsequenz: Die Körperlichkeit ist die Grundbedingung meines Daseins, als End- oder als Anfangspunkt von Zeit und Raum.

Poiesis

Auch ein Stein oder eine Maschine sind Teil der körperlichen Welt. Sie sind jedoch tote Objekte, während wir Menschen zu den lebenden Wesen gehören – aufgrund der besonderen Beschaffenheit unseres Körpers. Worin diese besondere Beschaffenheit liegt, haben die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela in den 1970er Jahren beschrieben.

Lebende Wesen unterscheiden sich von toten Objekten dadurch, dass sie die Bestandteile aus denen sie bestehen, selbst herstellen: zum Beispiel Lipide für die Zellmembran oder Aminosäuren für die DNA. Ein Lebewesen ist demnach ein System, das sich beständig selbst erschafft. Diesen Prozess der beständigen Selbsterschaffung nannten Maturana und Varela Autopoiesis. In Maturanas Worten:

„Das Wort ‚Autopoiesis’ ist ein griechisches Wort. Genauer gesagt, es ist ein von mir erfundenes neues griechisches Wort. Es setzt sich aus den zwei Begriffen ‚autos’ (was ‚selbst’ heißt) und ‚poiein’ (was ‚produzieren’ oder ‚erschaffen’ heißt) zusammen. [...] Dieses Wort ‚Autopoiesis’ schlug ich zur Bezeichnung derjenigen Systeme vor, die sich dadurch auszeichnen, daß sie Netzwerke der Produktion ihrer Komponenten sind. Das Netzwerk ist dabei zugleich das Ergebnis der Produktion der Komponenten.”

Autopoiesis zeigt sich zum Beispiel in der Fähigkeit von Lebewesen zur Selbstheilung. Wenn wir gegen einen Laternenpfahl laufen, müssen wir nicht von einem Mechaniker ausgebeult und neu lackiert werden. Die Prellungen sind nach ein, zwei Wochen verschwunden und auf den Abschürfstellen hat sich von selbst neue Haut gebildet. Laufen wir hingegen so heftig gegen den Laternenpfahl, dass wir uns tödliche Kopfverletzungen zuziehen, bricht die Autopoiese und damit auch die Fähigkeit zur Selbstheilung zusammen.

Grundbedürfnisse

Auch ohne die Begegnung mit einem Laternenpfahl ist die autopoietische Organisation eine sensible Angelegenheit. Sie muss durch das Lebewesen aktiv aufrecht erhalten werden – indem es die Ausgangsstoffe zur Produktion seiner körperlichen Bestandteile aus seiner Umgebung aufnimmt. Dadurch differenzieren sich die körperliche Grundbedingung unseres Daseins weiter aus: Wir müssen atmen, trinken, essen, schlafen und ein spezifisches Milieu vorfinden, in dem wir existieren können. Ohne atembare Luft sterben wir nach wenigen Minuten, ohne trinkbares Wasser nach 2–6 Tagen, ohne Nahrung nach 30–60 Tagen. Wir bedürfen eines bestimmten Temperaturkorridors, innerhalb dessen unser Stoffwechsel nur funktioniert. Sind wir ohne Schutz dauerhaft Temperaturen jenseits dieses Korridors ausgesetzt, kommt es zum Kälte- oder Hitzetod. Unsere autopoietische Organisation bricht zusammen. Wir werden von einem lebenden Wesen zu einem toten Objekt.

Aus den Grundbedingungen unseres körperlichen Daseins ergeben sich Grundbedürfnisse, wie beispielsweise über ausreichend Nahrung zu verfügen, um uns als lebendes System erhalten zu können. Befinden wir uns in der glücklichen Lage, dass wir diese Grundbedürfnisse befriedigen können, leben wir in einem Zustand der Versorgungssicherheit. Erst auf Basis dieses Zustands, wenn es keine Zeiten des Hungerleidens mehr gibt, kann sich ein gutes Leben im eigentlichen Sinne entfalten. Um überhaupt zu einem guten Leben gelangen zu können, muss die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse und damit die Bewahrung der autopoietischen Organisation unseres körperlichen Daseins gesichert sein. Die Philosophen Grix und McKibbin sprechen in diesem Zusammenhang deshalb auch von einer menschenwürdigen Existenz. Ein gutes Leben setzt eine menschenwürdige Existenz voraus. Es geht darum nicht nur zu überleben, sondern in Würde leben zu können. Unser körperliches Dasein ist untrennbar mit dessen Würde verbunden. Und darin liegt die eigentliche Poesie eines lebendigen Körpers. Neben Zeit und Raum als dritte Grundbedingung eines guten Lebens.


Anmerkungen

Die amerikanische Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway ergänzt den Begriff der Autopoiesis durch den der Sympoiesis:

„Sympoiesis is a simple word; it means ›making-with.‹ Nothing makes itself; nothing is really autopoietic or self-organizing.“

Sie hebt damit hervor, dass autopoietische Systeme immer auch in eine Umgebung eingebettet sind, durch die sie ihre autopoietische Organisation aufrecht erhalten können. Wir bilden eine symbiotische oder sympoietische Beziehung mit unserer Umgebung. Das einzelne Individuum ist nichts ohne die engen und vielzählingen Verbindungen zu seiner Lebenswelt.

Quellen

Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco – Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation, in: Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig: Vieweg, 1985
Grix, Marco / McKibbin, Philip – Needs and well-being, in: Fletcher: The Routledge Handbook of Philosophy of Well-Being. Abingdon: Routledge, 2016
Haraway, Donna – Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt: Campus, 2018