ESSAY
18.10.2024
Wer kennt es nicht: Man werkelt an etwas herum, wirft schließlich entnervt die Sachen in die Ecke und ruft aus: Das macht doch alles keinen Sinn! Und in philosophischen Momenten gerät auf einmal der Sinn insgesamt in den Blick. Was ist Sinn? Und wie kann man ihm habhaft werden? Die Miniatur begibt sich auf die Suche. In den Hauptrollen: Eine Kommissarin und ein Killer.
Foto: Rémi Müller/ Unsplash
In der Stadt geht ein Killer um. Die Mordkommission sammelt die Daten von dessen Taten: Ort, Zeit, Opfer, Todesursache. Die Daten werden auf einer großen Wand angebracht, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, die auf die Spur des Killers führen sollen. Es ist spät am Abend. Das Büro der Mordkommission liegt im Halbdunkel, die Wand ist sanft erleuchtet. Die Kommissarin steht regungslos vor der Wand. Sie ist alleine im Büro. Ihr Blick wandert konzentriert von Zettel zu Zettel, von Datum zu Datum. Sie versucht Verbindungen herzustellen – zwischen den Tatorten, Tatzeiten, den Opfern und den Todesarten. Doch es wollen sich einfach keine Verbindungen ergeben. Die Kommissarin schüttelt frustriert den Kopf: „Das ergibt alles keinen Sinn!“ Sie braucht jetzt erstmal einen Kaffee.
Als sie vom Kaffeeautomaten zurückkommt, fällt ihr ein Zettel auf, der scheinbar unbemerkt zu Boden gefallen ist. Der Zettel zeigt ein weiteres Opfer. Die Kommissarin sucht eine Position für den Zettel an der Wand. Bleichstraße, hier. Sie tritt zwei Schritte zurück, neigt ihren Kopf zur Seite – und da geschieht das Magische: Auf der sanft erleuchteten Wand entsteht mit dem neuen Zettel ein Muster. Die Augen der Kommissarin liegen gebannt darauf: So ergibt es Sinn. Und es ist abscheulich.
Die Kommissarin erkennt nicht nur mit der zusätzlichen Information das Muster oder die Logik des Killers, es ergibt jetzt nicht nur Sinn, sondern es erfüllt sie auch mit Abscheu. Sie erkennt jetzt nicht nur den Sinn, sondern bewertet ihn auch. Würde in der Stadt nicht ein Killer, sondern der Weihnachtsmann umgehen und die Kommissarin würde erkennen, nach welchem Muster er Geschenke verteilt, nämlich an die Armen und Bedürftigen, dann würde sie vermutlich mit einem Lächeln vor der sanft erleuchteten Wand stehen und sagen: Das ergibt Sinn. Und es ist wundervoll.
Nur wenige Stunden später greift die Spezialeinheit zu. Die Kommissarin schaut dem gepanzerten Einsatzwagen hinterher, der den Killer in das Hochsicherheitsgefängnis bringen wird. Der Spuk ist vorbei. Die Anspannung der letzten Monate fällt von ihr ab und weicht einem Gefühl der Erfüllung. Sie hat den Killer am Ende lesen können. Sie ist ihm auf die Spur gekommen. Sie hat dem Druck standgehalten, den Frustrationen und Momenten des Selbstzweifels.
Wenn man ihre Taten an eine sanft erleuchtete Wand heften würde, was sähe man dann? Ein Muster, das Menschen vor Schmerz, Leid und Tod zu schützen versucht. Wer würde da nicht sagen: Das ergibt Sinn? Doch anders als die Taten des Killers oder des Weihnachtsmanns sind es ihre Taten, es ist ihr Muster, ihr Werk. Sie betrachtet es nicht aus einer Distanz, sondern sie erlebt es mit jedem Zugriff, mit jeder Straftat, die sie verhindert oder aufdeckt. Ihr Tun, andere Menschen zu schützen oder zur Rechenschaft zu ziehen, erfüllt sie mit Sinn.
Sinn scheint zu entstehen, wenn man Objekte oder Ereignisse so miteinander in Verbindung bringen kann, dass ein Muster, ein Sinnzusammenhang erkennbar wird. Ihre Anordnung wird verständlich, sie haben eine Logik, sie ergeben Sinn. Bleibt das Muster, die Logik aus, entsteht der Eindruck einer unverständlichen, vielleicht sogar absurden Objekt- oder Ereigniskette gegenüberzustehen. Sie ergibt keinen Sinn. Man erkennt keinen Sinn dahinter.
Wenn man ein Muster erkannt hat, wenn etwas Sinn ergibt, dann eröffnet sich die Möglichkeit, das, was man da vor sich hat, zu bewerten. Und das bedeutet schlicht: Man findet es nicht gut oder gut, abscheulich oder wundervoll. In der Regel ist die Erkenntnis mit der Bewertung verbunden. Denn der Sinn macht etwas mit einem, er lässt einen nicht kalt – es sei denn man erlegt sich bewusst auf, sich einer Bewertung zu enthalten.
Wenn ich in etwas einen Sinn erkenne und ihn als gut befinde, dann stehe ich in diesem Moment noch in Distanz dazu, zum Beispiel gegenüber dem Tun des Weihnachtsmanns. Zwischen dem Weihnachtsmann und mir gibt es deshalb einen entscheidenden Unterschied. Ich erachte sein Tun als sinnvoll, er jedoch erlebt es als sinnvoll.
Sinn erleben bedeutet, sich an etwas, das man als sinnvoll erkennt, zu koppeln, davon bewegt zu werden und versuchen, es selbst ins Werk zu setzen. Die Kommissarin kann sich nicht an das Muster des Killers koppeln, im Gegenteil, es erfüllt sie mit Abscheu. Was sie bewegt ist das Muster des Guten und Gerechten. Dieses Muster in konkreten Situationen ins Werk zu setzen, erfüllt sie mit Sinn.
Wenn man Sinn erlebt, dann löst sich die Distanz zwischen dem Muster, das man als sinnhaft erkennt und einem selbst auf. Man ist mit Haut und Haaren Teil des Ereignisses oder der Tätigkeit, man taucht darin ein, wie es zum Beispiel beim Sport, Schreiben, Tischlern oder Gärtnern geschehen kann. Man empfindet, fühlt, erlebt den Sinn unmittelbar, ist sinnerfüllt.
Nach dem Zugriff bleibt die Kommissarin alleine am Einsatzort zurück. Die Kolleginnen haben sich verabschiedet. Die Einsatzwagen der Spezialeinheit sind verschwunden. Die Bleichstraße liegt wieder ruhig da, nur noch von den Straßenlaternen erleuchtet – so wie es sein soll. Sie mag es, wenn nach dem Monströsen die Normalität wieder einkehrt. Die Nacht ist warm. Motten umschwirren das Licht. Einige liegen bereits tot auf dem Boden unter den Straßenlaternen. Wie lange haben sie gelebt? Ein paar Tage, Wochen, Monate, einen Sommer?
Die Kommissarin schaut über die toten und schwirrenden Motten in den Nachthimmel hinaus. Genau so wird es ihr auch eines Tages gehen. Sie wird tot auf dem Boden liegen. Was wird dann bleiben – von ihrem Schwirren um das Gute und Gerechte? Je höher sie gedanklich in den Nachthimmel steigt, umso kleiner wird sie, umso kürzer wird ihre Lebensspanne, umso unwichtiger das, was sie tut. Nichts von ihr wird bleiben. Sie wird vergehen, nicht einmal ein Sandkorn im All. Und am Ende, nach Milliarden von Jahren, wird auch die Erde vergehen, die Sonne, das Sonnensystem, das ganze Universum. Nichts wird bleiben. Was macht das dann alles für einen Sinn?
Der Blick aus dem Weltall auf die eigene Existenz kann helfen, Dinge nicht zu wichtig zu nehmen. Die Schlussfolgerung daraus, dass alles sinnlos sei, übersieht jedoch, unter welchen Bedingungen Sinn überhaupt erst entstehen kann. Sinn entsteht, gerade weil die Dinge vergänglich sind – und Menschen sterblich. Erst dann entsteht die Möglichkeit, etwas als gut oder nicht gut zu bewerten und das Gute dann als sinnerfüllende Tätigkeit zu erleben.
Wenn der Killer niemandem etwas anhaben kann, weil alle unsterblich sind, dann gibt es für die Kommissarin nicht einmal einen Grund vor der matt erleuchteten Wand zu stehen und ein Muster im Verhalten des Killers erkennen zu wollen. Der Killer wäre nicht mal mehr ein Killer. Und die Kommissarin keine Kommissarin. Alles wäre egal.
Tischgespräch: Macht das alles Sinn?
Miniatur: Warum wir sterblich sind