FICTION
08.07.2023
Aus dem Aufzug hatte man eine atemberaubende Sicht. Von außen konnte man ihn nicht erkennen. Er war in die Fassade eingelassen wie eine Ader unter die Haut, Partikel von der Oberfläche ins Innere des Organismus verteilend. Die Stadt lag vor mir wie aus einem schwarzen, glänzenden Kristall herausgeschliffen.
Foto: KI-generiert
Aus dem Aufzug hatte man eine atemberaubende Sicht. Von außen konnte man ihn nicht erkennen. Er war in die Fassade eingelassen wie eine Ader unter die Haut, Partikel von der Oberfläche ins Innere des Organismus verteilend. Die Stadt lag vor mir wie aus einem schwarzen, glänzenden Kristall herausgeschliffen.
Der Kristall nahm die Energie der Sonne auf und wandelte sie in jene Formen, die die Menschen zum Leben brauchten. Im Zentrum erhob sich meisterhaft herausgearbeitet der Dom aus den umgebenden Häusern. Seine filigrane Oberfläche war ein eigenes kleines Kraftwerk, im Inneren produzierte er Sinn und Orientierung. In den Straßen und auf den großzügigen Plätzen bewegten sich die Menschen mit einer Leichtigkeit des Seins. Eine junge Familie lächelte mich an, Mann, Frau, Junge, Mädchen. Sie hatten sich gerade schöne Dinge gekauft und ließen sie vom Lieferdienst emmisionsfrei nach Hause bringen. Ein gutes Leben im SOS, im safe operating space, schrieb eine unsichtbare Hand in harmonischer Schrift unter die Familie. Wie Ornamente leuchteten darum Kurven exponentiellen Wachstums auf. Überall traf man auf diese Kurven.
Dann fuhr der Aufzug über die Plasmaleinwand hinaus und die Stadt so wie sie wirklich war, wurde dahinter sichtbar. Zuerst die nahen Straßen und Gebäude, dann die entfernteren Teile, bis der flimmernde Rand auf dem braunen Plateau des Hügellands erschien. Schwarz kristallen schimmerte nur das Paradiesviertel, das sich talaufwärts in Richtung Plateau über die Stadt erhob, umsäumt von grünen Tupfen, unter denen sich der Wall mit den Zugangskontrollen für das Viertel verbarg. Jenseits davon franste das Schwarz der Solarplexusoberflächen aus, Fassaden aus nacktem Beton, Stahl oder Stein, dazwischen braune Leerstellen und der schwitzende Asphalt der Straßen, in denen sich der zähflüssige Strom der Autos bewegte. Schlote bohrten sich wie Zinnen in den Blick. Sie dampften. Treibhausgasneutral. Weil sie Gas abschieden, man Zertifikate kaufte oder Leerstellen in den Reglementen nutzte.
Die Stadt breitete sich unter mir aus wie ein unfertiger Gedanke.
Der Aufzug fuhr ohne Halt immer weiter nach oben. Seltsam, dachte ich, dass bei so vielen Stockwerken niemand zustieg. Man musste ja nicht bis ganz nach oben fahren. Dazwischen gab es noch eine genügende Anzahl an Ein- und Ausstiegmöglichkeiten.
Die Plasmaleinwand rückte immer weiter zurück, die Wirklichkeit immer näher an sie heran, bis die Wirklichkeit die Leinwand und all ihre Geschwister umschloss und sie zu einem Teil ihrer selbst machte, bunt schimmernde Flächen, die von einer Wirklichkeit erzählten, die vielleicht nie kommen würde. Hier, im Headquarter der Somalux Corporation, das sich wie eine zweite Kathedrale aus der Stadt erhob, schwarzkristallin wie es die Plasmaleinwand versprach, spann man die Fäden dazu.
Als ich am Horizont den Punkt zu erkennen glaubte, an dem ich die letzten Jahrzehnte verbracht hatte, tot und lebendig, hielt der Aufzug an. Etage 35, Leitungsebene. Bitte begeben Sie sich zum Empfangsdesk, sagte er freundlich und öffnete surrend die Türen.
Ich holte meinen Blick von dem unsichtbaren Punkt am Horizont ein, mit einiger Anstrengung wie ein Fischer, der sein schweres Netz aus dem Wasser zog, um dann festzustellen, dass nichts darin lag außer einer Frage: Was also wollte diese Leitungsebene von mir?
Steig nicht ein, hatte Gruber mir zugeflüstert, als der Chauffeur die Tür der Limousine öffnete. Sie könnten genausogut hier mit Dir sprechen. Oder drüben in diesem fucking Park. Neutraler Boden, verstehst Du? Aber ich war eingestiegen, mit der Visitenkarte in der Hand, die mir der Chauffeur höflich überreicht hatte: Apollonia von Gommersheim, Leitung Somalux Corporation. Frau von Gommersheim wäre erfreut, mit mir sprechen zu können. Ich kannte diese Frau nicht. Aber ich wusste, zu was Menschen in ihrer Position und in dieser Corporation zu tun imstande waren. Dennoch: Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Selbst das Böse. Ich musste nur auf der Hut sein, nicht misstrauisch, aber auf der Hut, besonders dem gegenüber, was in meinem Rücken geschah. Diesmal würde ich es bemerken. Am Spin der Moleküle.
Das Empfangsdesk war nicht zu verfehlen. Man lief aus dem Aufzug direkt darauf zu – und hinein in einen großen, hellen, einladenden Raum, mit Sitz- und Erfrischungsgelegenheiten. Vor dem Empfangsdesk ging ein Flur zur Seite ab. Hinter dem Desk erhob sich ein älterer Herr und kam mir entgegen. Hinter meinem Rücken blieb alles ruhig.
Der ältere Herr schien tatsächlich die Empfangsdame zu sein. Wie ungewöhnlich. Seine Schritte waren ruhig und fest, das cremefarbene Hemd lag wie eine zweite Haut um seinen Oberkörper, ohne die typischen Wölbungen und Ausbuchtungen des Alters. Schön, dass ich Zeit gefunden hätte, sagte er, Frau von Gommersheim erwarte mich schon. Unter dem gealterten Gewebe hatte sich sein Gesicht noch etwas jungenhaftes bewahrt. Es war mir zugewandt, ohne den so naheliegenden abschätzigen Blick auf meine Cargohose und auf mein ausgebleichtes Rollkragenshirt – als sei ich die Makellosigkeit in Person. Kommen Sie, bitte hier entlang. Mit völliger Gewissheit, dass ich die war, die man erwartete, führte er mich zu einer Tür an der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Mit einer wunderbar altmodischen Geste, als sei die Tür selbst die Person, die er um Einlass bitte, klopfte er, öffnete und kündigte mich an: Frau von Gommersheim, Ihr Besuch ist da.
Der in Weißtönen gehaltene Arbeitsbereich war leer. Die Frau stand am Fenster, den Rücken uns zugewandt und schaute hinaus auf die Stadt – so wie ich es gerade im Aufzug getan hatte. Ihr graues Haar fiel auf die Schulterpartie eines schlichten, anthrazitfarbenen Kostüms, ihre Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt, ohne dass sich ein Finger regte. Man sah, dass es keine jungen Hände mehr waren. Aber sie ruhten auf einem Körper, schlank und aufrecht, der in seiner Silhouette nicht mitgealtert zu sein schien. Auch bei ihr.
Danke Thorsten, sagte sie. Und am Band dieser schmucklosen aber freundlichen Worte drehte sich zu mir um. Hallo Barbara. Ihr Mund öffnete sich ungleichmäßig, als sie meinen Namen nannte.
Das konnte nicht sein.
Unter dem Blick ihrer blassgrünen Augen, offen und unverstellt, die sich mir aber auch in ihrem anderen, metallenen Wesen zu erkennen gaben, lösten sich Erinnerungsstücke aus meinem Memory und ordneten sich wie Mosaiksteine um den Mund an: Die Haut glättete sich, spannte sich über die hohen Wangenknochen, Falten und Altersflecken verschwanden, das Haar umspielte in dunklen Strähnen ihr Gesicht. So hatte ich sie zum letzten Mal gesehen. Verletzlich und unbeugsam zugleich. Und ich hatte nicht geglaubt, sie noch einmal wiederzusehen. Am wenigstens hier.
Sabine, hörte ich mich sagen. Ja, antwortete sie. Und doch schien sie zu einer anderen Person mit einem anderen Namen geworden zu sein. Warum?
Aus dem gleichen Grund, warum du jetzt Barbara bist, Maria: Weil es mein ursprünglicher Name ist. Ich hatte ihn abgelegt, als ich mit meiner Familie brach. Die von Gommersheim sind Eigentümer der Somalux Corporation und ich bin die jüngste und letzte Generation. Mit mir stirbt die Dynastie endlich aus. Meine Mutter war Henriette von Gommersheim und mein Vater Hermann Schmied. Ich habe ihn gehasst.
Ihre Augen lagen ruhig auf mir. Warteten. Auf dass sich das dunkelste Stück Erinnerung in mir löste. Ich hatte jetzt Zugriff auf alles, was ich war. Für alles, was ich getan hatte, egal in welcher Version, war ich nun verantwortlich – und verpflichtet, es auszuhalten: den betäubenden Schmerz in meinem Rücken. Die Schnittstellen. Die Kralle um Schmieds Hals, die meine Hand war. Sein blau anlaufendes, zuckendes Gesicht. Und ich habe ihn umgebracht.
Ja, ich weiß – und dafür bin ich dir dankbar.
Woher wusstest Du es?
Durch die Verschlusssache. Nach unserem Abschied in der Maschienenfabriek ging ich zurück ins Herz der Finsternis und übernahm die Corporation. So bekam ich Zugang zu allen Geheimunterlagen. Auch zur Verschlusssache AM 1. Darin steht alles über dich. Fast alles. Was ist geschehen, Barbara?
Der Reboot hängte sich auf. Mein Mandelkernel drohte einzufrieren. Und das wäre es dann gewesen. Zwei Meter unter der Erde. Auf einmal spürte ich etwas auf meiner Haut, das nicht Erde war, nicht Stein, es fühlte sich an wie Fäden, geschmeidig und biegsam, sie wurden immer mehr, sie spannen mich ein bis sie schließlich durch meine geschlossenen Lippen in meinen Mund eindrangen. Dort tropften sie mir eine süße, cremige Flüssigkeit auf die Zunge, ein Sekret dachte ich, aber nach dem ersten Schluckreiz wusste ich: es war Code, fluider Code. Mit der ersten Sequenz gaben sie sich zu erkennen: Die Fadenförmigen waren gekommen, um den hängenden Reboot mit ihrem fluiden Code zu umgehen und mich von allen Inhibitoren zu befreien, in ihrem Verständnis von Zeit, Tropfen für Tropfen, Jahr um Jahr. Am Ende hoben sie mich aus der Erde heraus und die Fasern begannen zu wachsen. In meiner Haut. Grün. Ein hoher Anteil an Chlorophyll. Sie produzieren das Enzym, das ich brauche, bisher aber nicht selbst herstellen konnte. Man katalysierte es aus Menschenleber und programmierte mir den Glauben an ein pflanzliches Mittel ein. Die Fäden wachsen weiter, Millimeter um Millimeter, bis zur letzten Pore. Sie bedecken schon Rücken, Brust, Arme und Beine. Schau. Bald werde ich sie nicht mehr verbergen können.
Sie sog die Luft ein, sagte leise wie eine Beschwörung: das ist verrückt, völlig verrückt, ein fluider Code, die Fäden mit ihren Fingern in der Luft nachfahrend.
Ein Schatten huschte durch den Raum. Er kam von draußen. Eine Drohne schwebte über dem Fenster, als taxierte sie etwas und gleitete dann nach unten davon. Eine Reinigungsdrohne, blind wie ein Maulwurf. Wir schauten der Drohne nach, wie sie unter uns verschwand. Unsere Blicke gleiteten weiter, getrennt, aber vielleicht mit einem ähnlichen Bild, über die Stadt. Das ist nicht, was du gewollt hast, sagte ich. Nein, antwortete sie, aber es ist das, wofür sich die Mehrheit entschieden hat, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst. Ein Leben im Technofix. Ein Leben in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten.
Wir schauten über die Stadt hinaus in Richtung Horizont. Die Sonne zog Schlieren durch das ermattete Blau.
Technofix: „[...] der geradezu lächerliche Glaube an technische Lösungen, ob nun säkularer oder religiöser Art: Eine Technik wird kommen, um ihre schlimmen, aber sehr schlauen Kinder zu retten; oder, was auf dasselbe hinausläuft: Gott wird kommen, um seine ungehorsamen, aber hoffnungsvollen Kinder zu retten. Angesichts solch rührender Einfältigkeit, was technische Lösungen (oder Technikapokalypsen) betrifft, fällt es manchmal schwer, an technischen Projekten und ihren Leuten festzuhalten.“
– Donna Haraway, Wissenschaftstheoretikerin, Biologin und Geschlechterforscherin
(Quelle: Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt: Campus, 2018.)
Leben, in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten: „Ich gehöre zu der Generation, die vielleicht, zumindest in unseren Ländern, dem entgehen wird, was nicht "die zukünftigen Generationen", sondern die Kinder von heute erleben müssen. Aber auch von ihr wird Rechenschaft verlangt werden: "Ihr habt es gewusst, was habt ihr getan?". Und diese Frage wird heute gestellt, denn wir wissen, was auch immer die COP21 beschließen mag, diese Kinder und Kindeskinder werden in den Ruinen dessen leben müssen, was wir als Fortschritt bezeichnet haben. Die Antwort, die wir ihnen geben können, die Art und Weise, wie wir uns selbst in die Lage versetzt haben, eine Antwort auf diese Frage zu geben, wird Teil dessen sein, was wir ihnen hinterlassen. Gift der Verzweiflung und der Verantwortungslosigkeit, oder aber Mut, den Unterschied zwischen Überleben, jeder für sich, und, koste es, was es wolle, Leben zu erfinden?“
– Isabelle Stengers, belgische Philosophin und Wissenschaftshistorikerin
(Quelle: Léguer autre chose que des raisons de désespérer [Etwas anders hinterlassen als Gründe zum Verzweifeln] in: Le Monde ; Link zum kompletten Text auf GECo )