EINFÜHRUNG

Die Kunst in der Lebenskunst

16.03.2024

Die Miniatur Philosophie als Lebensstil endete mit einem veritablen Cliffhanger: Was versteckt sich hinter der Kunst in der Lebenskunst? Wer oder was tarnt sich unter dem altgriechischen Decknamen techné? Mit kriminalistischem Gespür bringt die vorliegende Miniatur Licht ins Dunkel.

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Foto: Jansel Ferma / Pexels

Techné

Das altgriechische Wort techné bezeichnete im ursprünglichen Sinne eine Handwerkskunst. Ein Schuhmacher verfügt über techné, wenn er gute Schuhe herstellt. Im Laufe der Zeit weitete sich der Begriff auf nicht handwerkliche Tätigkeiten aus, zum Beispiel auf die Künste. Eine Tänzerin verfügt über techné, wenn sie ihre Kunst, den Tanz, beherrscht. Der Unterschied zwischen Schuhmacher und Tänzerin besteht darin, dass der Schuhmacher mit seiner Tätigkeit ein separates Produkt, einen Schuh produziert, wohingegen das Produkt der Tänzerin die Tätigkeit selbst, das Tanzen ist. Hört die Tänzerin auf zu tanzen, ist das Produkt verschwunden.

Die Kunst in der Lebenskunst besteht darin, die eigene Psyche philosophisch zu gestalten. Sie gleicht damit der Kunst, der techné der Tänzerin. Es gibt kein separates Produkt wie der Schuh des Schuhmachers, sondern das Produkt ist der Prozess selbst. Und wie bei der Tänzerin geht das nicht von heute auf morgen. Man muss sich die techné, die Kunstfertigkeit erarbeiten, indem man sich zum einen fundiertes Wissen, also die theoretischen Grundlagen, aneignet und zum anderen die Umsetzung in die Praxis beständig übt. Die alten Griechen nannten den theoretischen Teil Logoi und die Umsetzung in die Praxis Askesis.

Logoi

Der theoretische Teil der Philosophie untersucht mit Methoden wie zum Beispiel der Argumentation die grundlegenden Fragen menschlichen Daseins. Da es sich hierbei um ein weites Feld handelt, hat man schon früh den theoretischen Teil in verschiedene Bereiche unterteilt. Aristoteles beispielsweise machte ein Unterteilung in theoretische, praktische und herstellende Bereiche.

Mit der Zeit differenzierte sich die Unterteilung immer weiter aus, sodass wir heute vor einem fein verzweigten Baum von Bereichen stehen. Im Buch Disziplinen der Philosophie von 2014 beschreiben die Autoren von der Analytischen Ethik bis zur Sprachphilosophie 24 Disziplinen, in denen Wissen zu den grundlegenden Fragen menschlichen Daseins produziert wird. Wie umfangreich und spezialisiert diese Wissensproduktion mittlerweile ist, kann man auf der Plattform philpapers.org bestaunen, auf der aktuell 2832671 wissenschaftlich-philosophische Aufsätze gelistet sind.

Die antiken Philosophen der Lebenskunst unterteilten die Philosophie in die Bereiche Logik, Physik und Ethik, wobei diese drei Begriffe im Vergleich zu unserem heutigen Gebrauch eine umfassendere Bedeutung hatten.

Zur Logik gehören neben der mathematischen Logik und der Argumentation auch die Erkenntnistheorie und die Sprachphilosophie. Die Physik „umfasst die gesamte Erforschung der natürlichen Welt“. Neben den Vorläufern der Naturwissenschaften wie wir sie heute kennen, zählten beispielsweise auch die Theologie und die Psychologie dazu. Die Ethik schließlich beschäftigt sich mit dem menschlichen Verhalten, von den individuellen Handlungen bis zur Rechts- und Staatsphilosohie.

Da die antike Lebenskunst den Fokus auf das Individuum und die Praxis setzte, stehen die drei Bereiche nicht gleichwertig nebeneinander, sondern bilden eine hierarchische Ordnung. An der Spitze steht die Ethik, um derentwillen eigentlich Philosophie betrieben wird. Physik und Logik arbeiten der Ethik lediglich zu. Die Stoiker veranschaulichten diese hierarchische Ordnung am Bild eines Obstgartens: Die Ethik ist die Frucht, um die es in einem Obstgarten letztendlich geht, die Physik der Baum, an dem die Frucht wächst und die Logik die Mauer, die den Obstgarten vor fremden Eindringlingen schützt.

Askesis

Der praktische Teil der Philosophie, die Askesis hat das Ziel, die Persönlichkeit des Übenden in Richtung eines harmonischen Seelenlebens, der Eudaimonia, zu transformieren.

Während heutzutage der theoretische Teil der Philosophie, die Logoi, an den Universitäten beforscht und gelehrt wird, ist die Askesis fast in Vergessenheit geraten.

Askesis, im philosophischen Sinne, hat nichts mit Verzicht zu tun – so wie es das eingedeutschte Wort Askese nahelegt. Der französische Philosoph und Ideenhistoriker Pierre Hadot spricht von spirituellen Übungen, Übungen des Geistes und der Seele. Und wie der Begriff der Askesis nichts mit Verzicht zu tun hat, hat der Begriff der spirituellen Übungen nichts Esoterisches oder Übersinnliches an sich. Man kann die spirituellen Übungen der Askesis vielmehr als ein Training der eigenen Persönlichkeit betrachten, das sich vom Ideal des weisen Menschen und des gelingenden Lebens, der Eudaimonia, leiten lässt. Spirituelle Übungen sind damit ähnlich bodenständig wie Sport und weisen eine vergleichbare Struktur auf: Man trainiert regelmäßig, beginnt mit einfachen Übungen und steigert dann Stück für Stück. Nur trainiert man statt des Körpers die Seele, die eigene Persönlichkeit.

Spirituellen Übungen liegt eine Prämisse zugrunde, die nach Hadot alle philosophischen Schulen in der Antike teilten:

„Alle Schulen sind sich einig, dass sich der Mensch vor seinem philosophischen Wandel in einem Zustand unglücklicher Unruhe befindet. Verzehrt von Sorgen, zerrissen von Leidenschaften, lebt er kein echtes Leben, ist er nicht wirklich er selbst. Alle Schulen sind sich einig, dass der Mensch aus diesem Zustand befreit werden kann.“ [Hadot: 1999, S. 101]


Und genau für diese Befreiung von negativen Zuständen sind die spirituellen Übungen gedacht. Konsequent durchgezogen führen spirituelle Übungen zu einer „Transformation unseres Blicks auf die Welt und zu einer Metamorphose unserer Persönlichkeit“ [Hadot: 1999, S. 82].

Der spätantike Philosoph Plotin hat diese Transformation am Bild der Herstellung einer Skulptur aus einem Marmorblock veranschaulicht:

„Wenn Du Deine eigene Schönheit noch nicht siehst, mache es wie der Bildhauer mit einer Statue, die schön werden soll: Er entfernt einen Teil, schabt einen anderen ab, glättet die eine Stelle und reinigt die andere, bis er das schöne Gesicht der Statue zum Vorschein bringt. In gleicher Weise musst auch du alles Überflüssige entfernen, das Krumme begradigen und das Dunkle läutern, bis du es zum Leuchten bringst. Höre niemals auf, deine eigene Statue zu formen, bis der göttliche Glanz der Tugend in dir erstrahlt [...].“ [zitiert nach Hadot: 1999, S. 100]


Quellen

Brandt, Horst D. (Hg.): Disziplinen der Philosophie. Ein Kompendium. Hamburg: Meiner, 2014
Hadot, Pierre: Philosophy as a Way of Life. Spiritual Exercises from Socrates to Foucault. Oxford: Blackwell, 1999
Hossenfelder, Malte:  Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis. München: C.H. Beck, 1994
Sellars, John: The Art of Living. London: Bloomsbury, 2009