ESSAY
11.02.2023
Irritationen gehören zum Alltag. Mal irritiert ein Gegenstand, der nicht auf seinem Platz liegt, mal ein fremder Mensch, von dem man seltsam angequatscht wird. Doch Irritationen sind mehr als nur ein Alltagsphänomen. Sie weisen auf eine fundamentale Diskrepanz hin.
Foto: Ekatarina Bolovtsova / Pexels
Sophia ist irritiert. Sie wollte gerade das Haus verlassen, aber der Haustürschlüssel ist nicht da, wo er seine sollte – auf dem Schuhschrank im Flur. Sie bekommt keinen Hautausschlag im Sinne einer körperlichen Reaktion, sondern die überraschende Abwesenheit des Schlüssels versetzt sie in einen bestimmten psychischen Zustand. Über diese psychische Form der Irritation soll es in dieser Miniatur gehen.
Eine Irritation scheint immer dann zu entstehen, wenn ein Ereignis eintritt, das man nicht erwartet. Erwartungen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen Annahmen zugrundeliegen – also zum Beispiel die Annahme, dass der Haustürschlüssel wie immer auf dem Schuhschrank im Flur liegt. Wenn nun eine Erwartung nicht eintritt, dann erweist sich folglich die zugrundeliegende Annahme als falsch. Die Realität räumt sozusagen etwas ab, von dem man fest überzeugt ist. Sie entspricht nicht dem, von dem man angenommen hat, wie sie sei. Dadurch entsteht eine Entfremdung zwischen einem selbst und der Realität. Und das irritiert.
Es gibt Situationen, in denen Irritationen kein großes Problem darstellen. Wenn die Realität nicht dem entspricht, was man erwartet, dann muss man eben seine Erwartung anpassen. Wenn der Haustürschlüssel nicht wie angenommen auf dem Schuhschrank im Flur liegt, dann ergibt es keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass er dort liegen soll. Nach einem kurzen Moment der Irritation zieht man los und begibt sich auf die Suche. Das ist der pragmatische Weg mit Irritationen umzugehen – und in vielen Fällen auch sinnvoll. In den empirischen Wissenschaften – Physik, Medizin, Soziologie und so – ist es sogar ein zentraler Mechanismus, eine Annahme (Hypothese) gegen die Realität zu prüfen. Erweist sich die Hypothese als falsch, muss sie korrigiert oder verworfen werden.
Logisch gesehen gibt es neben dem pragmatischen Weg, die Annahme zu korrigieren, aber noch eine andere, zweite Möglichkeit: die Realität zu korrigieren. Das klingt erst einmal etwas seltsam. Doch gibt es Situationen, in denen diese Möglichkeit eine durchaus valide Option ist. Diese Situationen sind durch eine Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln gekennzeichnet.
Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln meint, dass eine Person Wissen über einen Sachverhalt verfügt, aber nicht nach diesem Wissen handelt. Interessant ist nun, dass diese Diskrepanz nur in bestimmten Konstellationen auftritt. Wenn man zum Beispiel weiß, in welcher Stadt Immanuel Kant geboren wurde, dann hat das in der Regel keine Relevanz für das, was man tut. Es gibt im Alltag normalerweise keine Situationen, in denen sich aus dem Wissen über Kants Geburtsort irgendeine Handlung ableitet, es sei denn, man löst Kreuzworträtsel oder tritt in einer Quizshow auf. Hingegen ist das Wissen, wie man eine Trinkwasserleitung verlegt, von praktischer Bedeutung. Denn wenn man die Trinkwasserleitung irgendwie verlegt und die Rohre und Fitting falsch miteinander verbindet, dann ist die Leitung undicht und im Haus ensteht ein Wasserschaden. Wissen von praktischer Bedeutung ist demnach handlungsrelevantes Wissen. Die Missachtung handlungsrelevanten Wissens kann zu unterschiedlichen Folgen führen, zum Beispiel zu Misserfolg, Sachschaden, Personenschaden oder zur Mitwirkung an einem negativen globalen Effekt.
Wenn die Missachtung handlungsrelevanten Wissens zu einem Misserfolg führt, zum Beispiel wenn man ein Möbelstück falsch zusammenbaut, weil einen das Wissen in der Anleitung nicht schert, dann muss man mit diesem Misserfolg irgendwie klar kommen. Anders liegt hingegen der Fall, wenn die Missachtung zu Schäden anderer führt. Denn führt Wissen dazu, Schäden anderer zu vermeiden, dann ist es geboten, dieses Wissen in die Tat umzusetzen. Im Gegensatz zum rein enzyklopädischen Charakter des Wissens über Kants Geburtsort hat schadenvermeidendes Wissen einen gebietenden, oder in der philosophischen Fachsprache ausgedrückt, einen normativen Charakter. Du sollst niemandem Schaden zufügen. Eine Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln bedeutet dann, dass man den normativen Charakter des Wissens ignoriert.
Vor diesem Hintergrund klingt die zweite Möglichkeit mit Irritationen umzugehen gar nicht mehr so seltsam – nämlich auf seiner Annahme zu beharren in der Erwartung, dass es die Realität ist, die sich anzupassen hat. Diese Möglichkeit ergibt dann Sinn und ist gar geboten, wenn handlungsrelevantes Wissen mit normativem Charakter im Spiel ist.
Eine besonders verzwickte Situation ergibt sich durch handlungsrelevantes Wissen, dessen Missachtung zur Mitwirkung an einem negativen globalen Effekt führt. Beispiele für einen derartigen negativen globalen Effekt sind der Klimawandel und das Artensterben. Beide Effekte gehen auf ein Kollektiv menschlicher Handlungen zurück. Das Wissen über diesen Zusammenhang stammt von Wissensgremien, die einzigartig in der Welt sind: Dem Weltklimarat und dem Weltbiodiversitätsrat. Dort tragen Hunderte von Wissenschaftlern den aktuellen Wissensstand über das Erdklima und die Biodiversität zusammen – und sprechen Handlungsempfehlungen aus, um den schädlichen Effekten des Klimawandel zu begegnen. Einige davon sind mittlerweile Allgemeinwissen: Weniger Fliegen, weniger Autofahren, weniger Fleisch essen – bezogen auf jedes Individuum im Kollektiv.
Da durch die Handlungsempfehlungen des Weltklimarats Schäden vermieden werden, sind sie als Gebote zu betrachten. Und aus dem Gebotscharakter ergibt sich die Erwartung, dass die Handlungsempfehlungen in die Tat umgesetzt werden. In der Realität zeigt sich aber ein ganz anderes Bild: Menschen stehen in Flughäfen Schlange, in den Straßen lärmt der Autoverkehr und der örtliche Sportverein lädt zum Schlachtfest ein. Alles wie immer.
Im Gegensatz zum Schlüssel, den Sophia schließlich auf dem Serviertisch in der Küche gefunden hat, laufen Irritationen über kollektives Handeln aufgrund der komplexen Gemengelage Gefahr, anzudauern. Sie können chronisch werden – und in ein Gefühl des Absurden münden, wie es Albert Camus in seinem Buch Der Mythos des Sisyphus beschreibt:
In einem Universum, das plötzlich der Illusionen und Lichter beraubt ist, fühlt sich der Mensch wie ein Fremder. Dieses Exil ist ohne Zuflucht, da ihm die Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder die Hoffnung auf ein gelobtes Land verwehrt sind. Diese Trennung zwischen dem Menschen und seinem Leben, dem Akteur und seiner Umgebung ist das eigentliche Gefühl des Absurden. [Camus: 1994, übersetzt aus dem Französischen]
Ein Argument, warum die Einzelhandlungen in einem Kollektiv von Handlungen moralisch relevant sind, auch wenn Sie nur verschwindend gering zur Gesamtwirkung beitragen, liefert der englische Philosoph Derek Parfit in seinem Gedankenexperiment The Harmelss Torturers.
Camus, Albert – Le mythe des Sisyphe. Galimard, 1994
Parfit, Derek – Reasons and Persons. Oxford: Oxford University Press, 1984
Foto: Ekatarina Bolovtsova / Pexels