ESSAY
23.04.2023
So winzig die Erde aus dem All auch aussieht, so unermesslich groß wirkt sie, wenn man als kleine Kreatur darauf lebt. Doch kleine Kreaturen können die Erde beeinflussen – wenn sie nur viele sind und die technischen Möglichkeiten dazu haben.
Foto: SpaceX / Pexels
Die Miniatur Blauer Punkt im All endete mit dem Argument, die Summe ihrer technischen Möglichkeiten habe die Menschen in den Industriegesellschaften zu einem globalen, das Erdsystem beeinflussenden Faktor werden lassen. Deshalb müsse mit den technischen Möglichkeiten ein neues Denken einhergehen: weg vom linearen hin zum systemischen Denken.
Diese Schlussfolgerung setzt voraus, dass die technischen Möglichkeiten das Erdsystem oder Teilsysteme davon tatsächlich beeinflussen können. Doch wie soll so eine kleine Kreatur wie der Mensch einen so riesigen Planeten wie die Erde in Turbulenzen bringen können? Woran lässt sich das ablesen?
Genau die gleiche Frage stellten sich 2009 Wissenschaftler der Anthropocene Working Group (AWG), die von der International Commission on Stratigraphy (ICS) eingesetzt worden war, um zu überprüfen, „ob es Gründe gebe, ein neues Intervall geologischer Zeit auf der Grundlage weitreichender Auswirkungen anthropogener Einflüsse auf stratigraphisch signifikante Parameter’ zu etablieren” [Ellis: 2020]. Als Bezeichnung für das neue Intervall geologischer Zeit stand ein Begriff im Raum, der für Aufregung unter den Geologen sorgte: Anthropozän – das Zeitalter des Menschen.
Die International Commission on Stratigraphy ist die Hüterin der geologischen Zeitskala. Die Skala basiert auf einer „standardisierten Hierarchie chronostratigraphischer Einheiten” und ist unterteilt in Ären, Perioden, Epochen und Zeitalter. Anhand dieser Zeitskala lernt man beispielsweise in der Schule die Erdgeschichte kennen. Aktuell leben wir in der Epoche des Quarternär und im Zeitalter des Holozäns. Die klassische Periode der Dinosaurier ist die des Jura vor ca. 200 Millionen Jahren. Vor ca. 66 Millionen Jahren verschwanden die Dinosaurier und viele andere Arten von der Erde, dem fünften Massenaussterben auf unserem Planeten. Als eine Ursache dieses einschneidenden Ereignisses vermutet man einen Meteoriteneinschlag, worauf erhöhte Iridiumgehalte in den entsprechenden Gesteinsschichten hinweisen.
Derartige Hinweise gelten in der Stratigraphie als sogenannte Golden Spikes, Marker, die auf einschneidende, die Erde signifikant verändernde Ereignisse hinweisen. Eine der Hauptaufgaben der AWS war es nun, derartige Golden Spikes für das neue Erdzeiteitalter des Anthropozäns zu finden. Die Herausforderung: Es gab einfach zu viele davon.
Den Stein des Anthropozäns brachte neun Jahre zuvor der niederländische Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen ins Rollen. Auf einer Konferenz des Internationalen Geosphere Biosphere Programme (IGBP) in Mexiko trugen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen das aktuelle Wissen über das Erdsystem zusammen. Ein besonderes Augenmerk lag auf den globalen Veränderungen, die durch den Menschen verursacht wurden.
Die Grundlage der ersten menschlichen Hochkulturen legte die Neolithische Revolution vor ca. 10000 Jahren. Damals wurden die ersten Menschen sesshaft und begannen Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Die neolithische Revolution hängt eng mit dem Holozän zusammen, mit der sich das Erdsystem in eine interglaziale Phase (Zwischenwarmzeit) bewegte. Das Holozän zeichnet sich durch außergewöhnlich stabile Klimaverhältnisse aus, die eine zentrale Voraussetzung zur Entwicklung der menschlichen Kultur bilden.
Dementsprechend sprach man auf dem Kongress häufig vom Holozän. Jedoch haben sich die Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Erdsystem in den letzten 10000 Jahren signifikant verändert. Crutzen fand es irritierend, die Welt der ersten Ackerbauern und der heutigen Menschen unter einen gemeinsamen erdgeschichtlichen Begriff zu bringen. Der heutige Mensch war im Gegensatz zu seinen Vorfahren zu einem erdsystemischen Faktor geworden. Crutzen selbst hatte an einer der globalen Auswirkungen menschlichen Handelns geforscht, dem Ozonloch, und dafür den Nobelpreis für Chemie bekommen. So sprang er von seinem Sitz auf, wie Anwesende berichteten, eilte zum Mikrophon und rief: Hören Sie auf vom Holozän zu sprechen. Wir sind nicht mehr im Holozän, sondern im Anthropo … Anthropo … Anthropozän.
Crutzens These vom Anthropozän gab einem Forscherteam um den Klimawissenschaftler Will Steffen einen entscheidenden Hinweis, wie sie ihre Untersuchungen zu den anthropogenen Einflüssen auf das Erdsystem eingrenzen konnten. Das Team konzentrierte sich auf den Zeitraum von der industriellen Revolution bis heute. Man trug Daten menschlicher Aktivitäten (sozioökonomische Parameter) zum einen und von Umweltveränderungen (erdsystemische Parameter) zum anderen zusammen und bereitete sie grafisch auf.
Heraus kam: die große Beschleunigung. Ab den 1950er Jahren stiegen sowohl die sozioökonomischen als auch die erdsystemischen Parameter sprunghaft an und nahmen über die Jahrzehnte stark bis exponentiell zu – und das nahezu synchron. Das Team um Steffen formulierte die Ergebnisse in dem 2004 erschienenen Bericht Global Change and the Earth System – A Planet Under Pressure aus. Der Bericht gilt bereits heute als Klassiker der Erdsystemwissenschaft, die Ergebnisse wurden unter dem Begriff Die große Beschleunigung jenseits der Fachgrenzen bekannt. Die Message war klar:
„In den letzten 50 Jahren hat sich zweifellos die rapideste Veränderung der menschlichen Beziehung zur Natur in der Geschichte der Menschheit vollzogen [...]. Die Größenordnung, das räumliche Ausmaß und die Geschwindigkeit der vom Menschen verursachten Veränderung sind beispiellos [...]. Das Erdsystem befindet sich mittlerweile in einem nicht analogen Zustand, den man am besten als eine neue Ära in der geologischen Geschichte der Erde, das Anthropozän, bezeichnet.” [Steffen et al.: S. 81 und 258]
2015 nahmen Steffen und KollegInnen ein Update ihrer Untersuchungen vor. Der Trend bestätigte sich:
Sozioökonomische Parameter
Erdsystemische Parameter
Für den Golden Spike, dem Marker eines neue Erdzeitalters, gab es somit einen herausragenden Kandidaten: den Beginn der großen Beschleunigung.
Die große Beschleunigung steht aber nicht nur auf der BewerberInnenliste für einen Golden Spike ganz oben. Sie führt auch auf eindrückliche Weise den Beweis, dass die Menschen der Industriegesellschaften tatsächlich zu einem geologischen Faktor geworden sind. Ihr kollektives Tun wirkt sich auf das ganze Erdsystem aus. Folglich wäre ein neues Denken angezeigt, dass dieser Dimension Rechnung trägt. Aber warum eigentlich? Warum soll man sich darüber den Kopf zerbrechen? Beschleunigen ist doch eine aufregende Sache: Wenn man beim Porsche auf das Gaspedal tritt oder sich in einer Rakete in den Orbit katapultiert.
Das wird Thema der nächsten Miniatur sein.
Einen Marker als Golden Spike (GSSP) anzuerkennen, ist von großer Bedeutung, denn die Anerkennung schlägt sich auf die geologische Zeitskala nieder. Deshalb kann der Anerkennungsprozess Jahrzehnte dauern und akribische Forschung mit sich bringen. Ellis beschreibt den Vorgang wie folgt:
„Für die vollständige Ausarbeitung eines einzigen GSSP-Vorschlags bedarf es jahrelanger akribischer Forschung. Wenn die Bedingungen erfüllt sind, wird der Vorschlag einer Arbeitsgruppe von Kollegen begutachtet. Wenn die Abstimmung über den GSSP in der Arbeitsgruppe, im übergeordneten Ausschuss, im ICS selbst und schließlich auch im Vorstand der International Union of Geological Sciences positiv ausfällt, kann der GSSP gebilligt und in die geologische Zeitskala eingetragen werden.”
Ellis, Erle C.: Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung. München: oekom, 2020
Spektrum.de Scilogs: Reinhold Leinfelder - Paul ist nicht mehr unter uns! Oder doch? Ein persönlicher Nachruf auf den „Vater des Anthropozäns“, Nobelpreisträger Paul Crutzen. https://scilogs.spektrum.de/der-anthropozaeniker/paul-crutzen-nachruf/
Steffen, Will et al.: Global Change and the Earth System. A Planet Under Pressure. Berlin, Heidelberg: Springer, 2005
Steffen, Will et al.: The Trajectory of the Anthropocene. The Great Acceleration. In: The Anthropocene Review, 2015, 1–18