ESSAY
28.01.2023
Hannibal Lecter, einer der größten Bösewichte der Filmgeschichte, erfreute sich an klassischer Musik, während er seine Opfer verspeiste. Ihm schien es dabei ganz hervorragend zu gehen. Aber führte er auch ein gutes Leben?
Foto: CBC / Orion Pictures
Es ist eine Frage, die wie ein Stachel im Fleisch der Philosophie des guten Lebens sitzt: Können böse Menschen ein gutes Leben führen? Der Stachel sitzt besonders fest, wenn man, wie zum Beispiel die amerikanische Philosophin Valerie Tiberius, eine subjektive Theorie des guten Lebens vertritt. Subjektiv meint, dass allein die Person, um deren Leben es geht, beurteilt, ob ihr Leben gut oder schlecht läuft. In diesem Zusammenhang fallen Begriffe wie Glück, Wohlergehen oder Lebenszufriedenheit und ein positives Urteil äußert sich in dem einfachen Satz : Mir geht es gut. Wenn ein mathematisch hochbegabter Mensch zufrieden damit ist, Netflix Serien zu schauen statt seine Begabung zu entfalten, dann mag das objektiv bedauerlich sein – aus seiner subjektiven Perspektive führt er jedoch ein gutes Leben – und das zählt.
Bei Menschen, die ihre Begabungen verkümmern lassen, mag man denken: Schade, dass sie nicht mehr aus sich machen, aber wenn es ihnen gut dabei geht ... Doch will man das auch bösen Menschen zugestehen? Der Marquis de Sade quälte Prostituierte, Hannibal Lecter verspeiste seine Opfer und Adolf Hitler ließ Millionen von Menschen auf qualvolle Weise umbringen. Will man da auch denken: Irgendwie schade, dass sie das taten, aber wenn sie sich prima dabei fühlten ...
Subjektive Theorien des guten Lebens müssen an irgendeinem Punkt in diesen sauren Apfel beißen, gesteht Tiberius ein, und genau das den Bösewichten zugestehen: Ein gutes Leben trotz böser Taten. Tiberius bringt dieses Eingeständnis prägnant im sogenannten Happy Hitler Einwand auf den Punkt:
[...] a person could be living well, achieving her own good, flourishing by the standard of the bright eye and the bushy coat, even though she is morally monstrous. We might call this the “Happy Hitler” objection.
Wenn also die Frage, ob mein Leben gut oder schlecht läuft, allein der subjektiven Beurteilung unterliegt, dann ist Happy Hitler die Konsequenz. Vetreter subjektiver Theorien mögen diesen Biss in den sauren Apfel konsequent in Kauf nehmen. Intuitiv fällt es jedoch schwer, böse Menschen mit einem guten Leben in Verbindung zu bringen. Ein Bösewicht mag sich geil fühlen bei seinen Taten, aber ein gutes Leben führt doch deshalb noch lange nicht.
Die Kluft, die sich zwischen Happy Hitler und der Intuition auftut, führt der amerikanische Philosoph Daniel M. Haybron auf ein Begriffsdurcheinander zurück. Auf der einen Seite haben wir Begriffe wie Glück, Wohlergehen oder Lebenzufriedenheit, die zur Begriffsfamilie subjektiv empfundenen Wohls gehören. Auf der anderen Seite steht der Begriff des guten Lebens, der in einen umfassenderen Topf gehört. Haybron schlägt also vor, die Begriffsfamilie des subjektiv empfundenen Wohls von dem Begriff des guten Lebens zu unterscheiden. Wohlergehen ist ohne Zweifel Teil eines guten Lebens, aber eben nicht alles.
Als zweite Zutat kommt Haybron zufolge menschliche Exzellenz (Vortrefflichkeit) hinzu, womit das Streben nach Eigenschaften gemeint ist, die uns als Menschen in positiver Weise auszeichnen. Mit diesem einfachen wie eleganten Vorschlag manövriert uns Haybron aus der unangenehmen Situation, Bösewichten ein gutes Leben zuzugestehen. Sie mögen sich voll super fühlen bei dem, was sie tun, aber ein gutes Leben führen sie nicht. Denn ein gutes Leben umfasst mehr als nur subjektives Wohlempfinden.
In Anlehnung an Haybrons erhellende Unterscheidung möchte ich noch einen Schritt weiter gehen. Denn neben Wohlergehen und Exzellenz gibt es noch eine dritte Form des Guten: das moralisch Gute. Deshalb schlage ich vor, auch Moralität, also moralisch das Richtige zu tun, als Teil des guten Lebens zu betrachten. Wohlergehen, Exzellenz und Moralität bilden demnach die drei Dimensionen des guten Lebens. Ähnlich dem Raum, der sich über die drei Dimensionen Länge, Höhe und Breite aufspannt, kann man auch das gute Leben derart dreidimensional betrachten. Und wie ein Körper eine Länge, Breite und Höhe haben muss, liegt ein gutes Leben nur dann vor, wenn jede Dimension einen Wert größer null aufweist.
Aus diesem dreidimensionalen Verständnis des guten Lebens ergeben sich zwei wunderbare Konsequenzen:
Tiberius, Valerie – Prudential Value, in: Hirose, Olson: The Oxford Handbook of Value Theorie. New York: Oxford University Press, 2015
Haybron, Daniel M. – Well-being and Virtue, in: Journal of Ethics & Social Philosophy, Vol. 2, No. 2