ESSAY
21.01.2023
Klimaaktivisten stellen sich dem Abbau von Braunkohle entgegen. Die Bilder gehen um die Welt. Doch in Lützerath geht es um mehr als nur um Kohle. Es geht um die Frage, wie wir mit dem Raum als einer Grundbedingung unseres Lebens umgehen wollen.
Foto: Ssaman Mardi / mastodon
Menschen sind räumliche Wesen. Das liegt allein daran, dass wir einen Körper haben. Unser Körper ist ausgedehnt. Er nimmt Raum ein. Und ist von Raum umgeben. Raum ist neben der Zeit eine weitere Grundbedingung menschlichen Daseins. Genauso wie wir nicht jenseits der Zeit existieren können, ist unsere Existenz durch unsere Körperlichkeit an den Raum gebunden.
Während die Zeit rätselhaft bleibt, sind wir sichtbar vom Raum umgeben. Und selbst wenn die visuelle Erfahrung fehlt, bleibt der Raum direkt spürbar – so wie es blinde Menschen tun, indem sie ihren Stock in den Raum ragen lassen und ihn so ertasten.
Der Raum um mich herum bedeutet auch: Ich bin der Nullpunkt, der point of view. Ich sehe und erlebe den Raum immer von diesem Nullpunkt aus. Ich kann mich im Raum bewegen wie ich will, der Nullpunkt ist immer bei mir. Die französische Philosophin Corine Pelluchon schreibt:
Wir bewegen uns in einem Raum, in dem sich die Bewegung und die Ruhe der Körper auf einen Referenzpunkt beziehen, der unser Leib ist.
Auf diese Weise bekommt auch das Sprichwort „Ich kann nicht aus meiner Haut“ eine weitere Bedeutung. Denn ich bin nicht nur durch meine Persönlichkeit bestimmt, wie ich die Welt sehe, sondern auch durch meine Körperlichkeit – dass ich von einem bestimmten, immergleichen Punkt aus mir die Welt erschließe. Obwohl ich beweglich bin, bin ich in meiner Perspektive auf den Raum verankert.
Der Raum hat eine Beschaffenheit. Er kann leer oder angefüllt sei. Mein Leben ist von seiner Beschaffenheit abhängig. Ist der Raum leer, kann ich darin nicht leben. Das Weltall ist ein annähernd leerer Raum. Wenn ich aus einem Raumschiff in das Weltall stürze, ist es das Ende, selbst wenn ich einen Raumanzug trage. Ich stürze so lange durch die Weiten des Raums, bis mir der künstliche Sauerstoff ausgeht oder ich verdurstet bin. Ich brauche eine räumliche Heimat. Das ist die Erde.
Aber selbst auf einem Planeten wie der Erde kann ich nicht beliebig Raum einnehmen. Aus der Luft stürze ich herab. Im Wasser gehe ich unter. Unter der Erde liege ich begraben. Ich habe eine bestimmte Position im Raum. Ich brauche festen Boden unter den Füßen. Von dort rage ich 1,82 m in die Luft empor. Oder in den Begriffen der Erdsystemwissenschaft ausgedrückt: Ich stehe auf der Geosphäre und rage in die Atmosphäre hinein. Das ist wichtig. Denn nur in der Atmosphäre kann ich atmen.
Nur festen Boden unter den Füßen zu haben reicht jedoch nicht aus. Das hätte ich auch auf dem Mond. Doch ohne Schutzmaßnahmen, wie einem Raumanzug, würde ich dort nur wenige Minuten leben. Ich brauche eine ganz spezifische Beschaffenheit des Raums, in der ich leben kann: eine spezifische Zusammensetzung der Atmosphäre, in der ich atmen kann; eine Hydrosphäre, die mir Wasser spendet; und eine Biosphäre, von der ich mich ernähre. Der Raum, um als Mensch darin existieren zu können, muss ein ganz spezifisches Inventar aufweisen. Ein Milieu.
Sobald ich existiere, verändere ich die Beschaffenheit des Raums/Milieus. Wenn ich atme, verändere ich die Beschaffenheit der Atmosphäre. Wenn ich esse, nehme ich Einfluss auf die Biosphäre. Wenn ich mir ein Haus aus Lehm oder Stein baue, schlage ich Löcher in die Geosphäre. Selbst wenn meine individuellen Eingriffe im Vergleich zur Gesamtmasse der jeweiligen Sphären verschwindend gering sind, haben sie dennoch eine Wirkung – so wie es die Primatenforscherin Jane Goodall in ihrem Grußwort zur Klimakonferenz 2021 in Glasgow sagte:
Every individual makes an impact every single day.
Die Veränderungen, die ich im Raum/Milieu bewirke, spiegeln meine psychische und mentale Verfassung wider. Schlage ich Breschen in die Natur oder gehe ich behutsam damit um? Und in der Summe zeigen die Veränderungen, wer wir als Menscheit sind. Wir schreiben der Erde neue Sphären ein: die technische, soziale und geistige. Wir fügen diese Sphären der ursprünglichen Beschaffenheit des irdischen Raums hinzu. Im Rückgriff auf den Geographen Augustin Berquel bezeichnet die französische Philosophin Corine Pelluchon dies als Ökumene.
Die Ökumene ist aus der Biosphäre hervorgegangen und wurde durch einen Prozess der Hominisierung, Anthropisierung und Humanisierung geboren. Dieses menschliche Werk, das die Ökumene ist, artikuliert sich durch seine Entfaltung im Raum, indem es zum Beispiel Reisfelder entstehen ließ.
Lützerath
Mit den enormen technischen Möglichkeiten, die wir als Menschheit mittlerweile haben, stellt sich die Frage, wie wir wollen, dass der Raum auf der Erde beschaffen sein soll – in welcher Ökumene wir leben wollen. Ein eindrückliches Beispel hierfür ist Lützerath. Stell dir vor, du stehtst an der Abbruchkante. Vor dir der Tagebau: Es geht mehrere hundert Meter in die Tiefe und aus der Tiefe ragt ein riesiger Schaufelbagger empor – ein Raum wie von einem anderen, lebensfeindlichen Stern. Hinter Dir das Dorf Lützerath: Häuser, Wege, Felder, in denen Menschen und viele andere Lebewesen gelebt haben.
In Lützerath geht es deshalb nur vordergründig darum, ob wir im Angesicht des Klimawandels noch weiter Kohle abbaggern und verfeuern dürfen. Lützerath stellt uns vielmehr vor die Frage, wie wir mit dem Raum auf der Erde, unserem Milieu und unserer Ökumene umgehen wollen. Wollen wir ihn ausbaggern oder darin leben?
Pelluchon, Corine – Wovon wir leben: Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. Darmstadt: wbg, 2020